Aus der Geschichte der Brennaborwerke II

Hochräder und Rover

Katalog 1896
Katalog 1896

 

Bereits vor der Gründung der Kinderwagenfabrik 1871 hatte die Firma Eduard Reichstein dreirädrige Knabenvelocipede als Unterartikel im Programm. Diese Kinderdreiräder blieben in modifizierter Form bis zum Ende der Brennaborwerke in der Produktion. Mit der Einführung der Bicycle Räder im Kinderwagenbau, die nach dem Vorbild englischer Hochräder gefertigt wurden, war in der Firma Gebrüder Reichstein Ende des  Jahres 1883 auch ein wichtiger technologischer Grundstein für die Produktionsaufnahme von Hochrädern gelegt worden.

Carl Reichstein ließ sich in Coventry und Birmingham in die Technologie der englischen Hochradproduktion einführen. Zunächst wurden die erforderlichen Rohteile für die eigene Produktion aus England bezogen und Hochräder aus diesen Teilen montiert, bevor man diese Teile in entsprechenden Betriebseinrichtungen in Brandenburg selbst herstellen konnte. Insbesondere war die Einrichtung einer Schmiede mit Fallhammer und einer Gießerei zur Herstellung von schmiedbarem Guss notwendig. Zur Saison 1885/86 wurde in der Kinderwagenfabrik eine Fahrradabteilung unter der Leitung von Carl Reichstein gegründet. Da Hochräder nur für junge sportliche Herren geeignet waren, wurden auch Dreiräder für ältere Herren mit in das Fertigungsprogramm aufgenommen. Die Produktion nach Vorbild dieser englischen Modelle war nur sehr begrenzt möglich, da es noch keine entsprechenden Fachkräfte für den Fahrradbau gab. Daher wurden zunächst in größerem Umfang zwei-und dreirädrige Jugendräder, die technologisch einfacher zu fertigen waren, nach der Bauart der englischen Vorbilder hergestellt. Da die Arbeitskräfte selbst ausgebildet werden mussten, wurden sie durch einen Meister bei der Fertigung dieser Modelle angelernt und eingearbeitet. Unter der Bezeichnung „Jugendlust“ fanden die dreirädrigen Jugendräder guten Absatz und blieben bis 1892/93 im Fertigungsprogramm. Die zweirädrigen Jugendhochräder wurden bis 1896 produziert und die Dreiräder für Erwachsene bis ca. 1889 hergestellt.

Katalog 1896


Hochräder für Erwachsene wurden unter den Modellbezeichnungen „Meteor“, „Magnet“, „Komet“ und „Rational“ in der Fahrradfabrik der Gebrüder Reichstein hergestellt.

Hochradsport war nicht ungefährlich. Um die gefürchteten Kopfstürze zu vermeiden, wurden sogenannte „Sicherheitshochräder“ gebaut. Bei normalen Hochrädern verläuft eine gedachte Linie durch den Steuerkopf, die senkrecht stehende Radgabel und die Radachse bis zum Radaufstandspunkt. Dadurch ist keinerlei Selbststabilisierung des Radlaufes bei Geradeausfahrten gegeben und jede Straßenunebenheit kann bei Unachtsamkeit zum Herumschlagen des Lenkers und damit zum Sturz führen. Bei Sicherheitshochrädern ist dazu im Gegensatz die Gabel leicht nach vorn gebogen, eine durch den Steuerkopf und die Radachse  gedachte Linie trifft vor dem Radaufstandspunkt auf die Fahrbahn. Dieser Nachlauf des Radaufstandspunktes bewirkt eine Selbststabilisierung des Rades beim Geradeausfahren, freihändiges Fahren wird bei Beibehaltung der Fahrtrichtung möglich und Stürze können vermieden werden. Das Hochradmodell „Magnet“ von 1891 war eines der ersten Fahrradmodelle mit Nachlauf. Bei späteren Fahrradkonstruktionen ist der Nachlauf des Vorderrades Standard, um sicheres Fahren zu ermöglichen. Dieses Modell war außerdem mit Pneumatikreifen ausgestattet, welche die Fahrsicherheit zusätzlich erhöhten. 

Die Nachfrage nach Hochrädern ging stark zurück, als die alltagstauglichen, in England entwickelten Niederräder nach Deutschland importiert wurden. Das letzte Hochradmodell der Fahrradfabrik Gebrüder Reichstein wurde 1893 mit weiteren Verbesserungen vorgestellt. Es hatte eine Übersetzung der Tretkurbelbetätigung, Pneumatikreifen und einen kugelgelagerten Lenkkopf. 1894 wurden Hochräder nicht mehr gefertigt, die neuen Sicherheitsniederräder, „Rover“ genannt, hatten sich durchgesetzt. 

Diese Sicherheitsniederräder waren ab ca. 1888 im Produktionsprogramm der Fahrradfabrik Gebrüder Reichstein. 1890 wurden schon über 10.000 „Rover“ hergestellt und auch ins Ausland exportiert. 


Vom 23.2.-5.3.1889 fand in Leipzig die erste nationale Fahrradausstellung auf Initiative des „Vereins Deutscher Fahrradfabrikanten“ statt, zu dessen Gründungsmitgliedern auch die Gebrüder Reichstein gehörten. In England und auch schon in Deutschland war es üblich, dass jedes Fabrikat neben der Firma des Fabrikanten noch einen eigenen Namen erhielt. Carl Reichstein wählte, vermutlich aus Anlass der ersten deutschen Fahrradausstellung, als Markenbezeichnung den Namen „Brennabor“, der zu damaliger Zeit als alte slawische Bezeichnung für Brandenburg bekannt war, was sich später aber als unrichtig herausstellte. Der weiteren Verwendung des klangvollen Namens bis in heutige Zeiten tat das aber keinen Abbruch. Nach neuesten Erkenntnissen von Mario Steinbrink wurde der Markenname „Brennabor“ ab 1888 verwendet. Die Kennzeichnung der Brennabor-Fahrräder erfolgte zunächst, wie damals allgemein üblich, mit  Markenzeichen in Form von Abziehbildern am Steuerkopf. Ab ca. 1895 wurden Steuerkopfschilder aus Messing verwendet. Die Marke „Brennabor“ wurde wegen des guten Rufes auch für die Kinderwagen übernommen.

Abziehbild für Steuerkopf?

Ausschnitt aus dem Katalogtitelbild 1894


Die  rasant ansteigende Fahrradproduktion bildete ab Mitte der 1890er Jahre das Kernstück der Fabrik der Gebrüder Reichstein.

Von 1890 bis 1896 verdoppelte sich die Fahrradproduktion von 10.000 Stück auf 20.000 Stück pro Jahr.

Bis 1896 wurden nach Firmenangaben insgesamt 100.000 Fahrräder hergestellt, 1898 waren es bereits 200.000 Fahrräder.

1896 wurde die Kinderwagen- und Fahrradfabrik „Gebrüder Reichstein“ in „Brennabor-Werke-Gebrüder Reichstein Brandenburg/Havel“ umbenannt.

Katalog 1896

Annonce 1898


Anmerkung:

Die Informationen zu diesesm Abschnitt wurden überwiegend dem Mitgliederjournal des Vereins "Historische Fahrräder e. V.", Heft 62, 2/2016 entnommen, Autor Mario Steinbrink.

Die Rover Safety Bicycle, welche 1885 von John Kemp Starley in Coventry entwickelt worden waren und deren Herstellung ab ca. 1888 auch in den Brennaborwerken begann, wurden durch die Fahrradproduzenten ständig konstruktiv verbessert.  1889/90 wurde bei den Brennabor Fahrrädern die bisherige Kreuzrahmenkonstruktion durch einen geradlinigen und damit stabileren Rahmenbau (Diamantrahmen) ersetzt. Bei Jugend-Rovern und einfachen Rovern für Erwachsene blieb der Kreuzrahmen mit seinen dünnen Verstrebungen bis 1894 in der Anwendung. Eine weitere wesentliche Verbesserung war die Einführung der Sockelsteuerung mit Kugellagern, wie sie auch heute noch verwendet wird. Ab 1890 wurde die bisher gebräuchliche Nackensteuerung, bei der ein Hilfslenkrohr fest mit dem Rahmen verbunden ist und Lagerpunkte an der Lenksäule montiert sind, durch diese neue Kugellagersteuerung ersetzt. Die Brennabor Fahrradmodelle wurden ab 1892 zunehmend mit pneumatischen Reifen an Stelle der alten Vollgummireifen angeboten. Dadurch wurden auch neue, reifenschonende Bremsenkonstruktionen notwendig. 

Im Januar 1895 wurden den Händlern die letzten Lagerbestände an Jugendhochrädern und Rovermodellen mit Kreuzrahmen sowie Nackensteuerung zu verbilligten Preisen angeboten. 


Die Katalogauszüge von 1894, 1896 und 1901 belegen eindrucksvoll die ständige technische Weiterentwicklung. Ab 1893 wird die Bezeichnung Rover von den Brennaborwerken nicht mehr verwendet, sondern ausschließlich die Markenbezeichnung „Brennabor“ für die jeweiligen Fahrradmodelle verwendet.


Abwerbung und Fahrradkrise

Ein großes Problem war es schon Anfang der 1870er Jahre die notwendigen gelernten Korbmacher für die ständigen Produktionserweiterungen der Kinderwagenfabrik der Gebrüder Reichstein zu finden. Carl Reichstein löste dieses Problem dadurch, dass er die Herstellung von Kinderwagenkörben in Einzelschritte gliederte und das Flechten über Holzformen ausführen ließ, so konnten diese Arbeiten auch von angelernten  Arbeitskräften ausgeführt werden.

 

Besonders erschwerend für die Gebrüder Reichstein war es, dass die Dezimalwaagenfabrik Kuhtz & Co. in der Bauhofstraße 6/7 den Kinderwagenbau in ihr Produktionsprogramm aufnahm und somit zu einem Konkurrenzunternehmen wurde. In seinen Lebenserinnerungen beschreibt Carl Reichstein die Abwerbung der notwendigen Arbeitskräfte für den neuen Produktionszweig auf Kosten der Kinderwagenfabrik der Gebrüder Reichstein. 


Mitte der 1890er Jahre musste die Fahrradfabrikation der Brennaborwerke der Gebrüder Reichstein erneut mit dem Problem der massiven Abwerbung der Arbeitskräfte kämpfen. Die Gründung weiterer Fahrradfabriken in Brandenburg führte zu einem hohen Bedarf an spezialisierten Arbeitern, die aber bis dahin nur in den Brennaborwerken vorhanden waren. 1892 wurde die Corona-Fahrradfabrik gegründet, 1895 folgten die Kondor- und die Rolandfahrradfabrik, 1896 die Alexander-und die Excelsiorfahrradfabrik, 1897 schließlich noch die Brandenburgia Fahrradteilefabrik.

Bei der Aufnahme der Fahrradproduktion durch die Gebrüder Reichstein waren solche spezialisierten Arbeitskräfte überhaupt nicht verfügbar gewesen und mussten in Eigenausbildung qualifiziert werden. Diese Aufgabe wurde von Meistern, die mit den technologischen Prozessen der Metallverarbeitung vertraut waren, übernommen.

Carl Reichstein schreibt dazu in seinen Lebenserinnerungen:

 

„Meister Rackmann leitete mit Fleiß und Verständnis die Herstellung der Fahrradrahmen. Meister Schwahn die Schleiferei und Vernickelung. Beide haben es nach meinem bewährten Rezept „Arbeitsteilung“ wohl verstanden, sich die nötigen Arbeiter heranzubilden. Leider mussten sie das Anlernen häufig für andere tun, denn die hier später entstandenen Fahrradfabriken holten sich bei Bedarf die notwendigen Spezialarbeiter aus unserem Betriebe.“



Die Abwerbung von spezialisierten Arbeitskräften durch höhere Löhne ließ sich kaum verhindern, durch Anlernen neuer Arbeiter wurde das Problem gelöst. Aber die Abwerbung von Meistern, die die Träger der Technologie darstellten, war eine nicht schnell lösbare Aufgabe. Um der Abwerbepraxis von Meistern entgegenzuwirken, wurde von den Brennaborwerken um 1900 ein Wohnhaus für besonders wichtige Mitarbeiter errichtet, in dem den Meistern günstiger Wohnraum in Werkswohnungen angeboten wurde, um so eine Bindung an die Firma zu erreichen. Im Volksmund wurde dieses markante und heute wegen seiner besonderen Architektur unter Denkmalschutz stehende Wohnhaus in der Potsdamer Straße 12, „Meisterhaus“ genannt. Der für den Fahrradrahmenbau verantwortliche Meister Rackmann wohnte im Haus Kleine Gartenstraße 14, welches ebenfalls der Firma Brennabor gehörte.

Wohnhaus Potsdamer Straße 12.

Auf dem Foto  von 1995

ist noch der Giebelansatz

des Brennabor Sägewerkes sichtbar.


Im Jahre 1897 setzte in ganz Deutschland, bedingt durch die Neugründung von über 40 kleineren und mittleren Fahrradfabriken im Zeitraum 1895/96, eine Absatzkrise ein. Die Gesamtproduktion von Fahrrädern in Deutschland verdoppelte sich in diesem Zeitraum. Hinzu kamen massenhaft billige Fahrräder aus den USA, die nur etwa die Hälfte der deutschen Fahrräder kosteten. Diese Absatzkrise dauerte bis 1901 an und führte zum Konkurs zahlreicher kleiner und mittlerer Fahrradfabriken, die zumeist in diese Krise hinein gegründet worden waren. In Brandenburg waren das Kondor-Fahrradwerk, das Roland-Fahrradwerk und das Alexander-Fahrradwerk betroffen. Auch die Weiterführung des Roland-Fahrradwerkes als Minerva- und Colibri- Fahrradfabrik durch einen neuen Besitzer endete bald im Konkurs. 

Die Brennaborwerke und das Händlernetz der Brennaborwerke betrieben in dieser Zeit eine sehr offensive, gegen die amerikanischen Produkte gerichtete Werbung. Es wurden bei der Werbung besonders die technischen Vorzüge  der Brennabor-Fahrräder hervorgehoben und auch die radsportlichen Erfolge wurden als Kaufargument genutzt. Amerikanische Fahrräder wurden in der Brennabor-Werbung als „Schundware“ bezeichnet. Das war nicht von der Hand zu weisen, da die billigen Preise dieser Räder nur durch veraltete, einfache Herstellungsverfahren möglich wurden und dadurch deren Haltbarkeit wesentlich geringer war. So waren die Rahmenverbindungen der amerikanischen Fahrräder aus billigem, bruchanfälligem Guss gefertigt. Die Brennabor-Werbung verwies darauf, dass an Brennabor-Fahrrädern im Gegensatz dazu keinerlei Gussteile verwendet werden. 


Einige Händler ermöglichten jetzt auch eine Teilzahlung beim Kauf.

Schlagworte prägen die Brennabor-Werbung dieser Zeit:

 

„Brennabor- unerreicht“,

„Das Fahrrad, wie es sein soll“

„Das Ideal aller Radler“

„Das beste Rad der Welt“

„Nicht das billigste, aber das beste Rad“

 


Die Werbung wurde durch Brennabor intensiviert, sowohl mit Annoncen in den überregionalen Zeitschriften als auch durch die Händler in den örtlichen Zeitungen. Dazu wurden den Händlern durch die Firma Brennabor entsprechende Druckklischees zur Verfügung gestellt, welche ansonsten für den einzelnen Händler in der Herstellung zu teuer gewesen wären. Druckklischees und Kataloge wurden vom bekannten Berliner Künstler Peter Geh im damals  modernen Jugendstil gestaltet und waren damit durch ihren künstlerischen Wert  besonders werbewirksam. Der Beschreibung technischer Vorteile der Brennabor-Fahrräder wurde jetzt in den Annoncen und Katalogen wesentlich mehr Raum gegeben. Im Katalog für die Saison 1901 waren es z. B. acht Seiten, auf denen die höheren Preise durch die Beschreibung der besseren Technik und der guten Qualität erklärt wurden. Auch sportliche Erfolge auf Brennabor-Rädern sowie Verkaufszahlen wurden in Annoncen und Katalogen werbewirksam präsentiert. Beschäftigtenzahlen und die gute technologische Ausstattung des Werkes spielten in der Werbung ebenfalls eine große Rolle.