Die Abschnitte "Aus der Geschichte der Brennaborwerke I, II, III" wurden unter Verwendung von 

Abbildungen und Texten des Autors Mario Steinbrink aus "Der Knochenschüttler" und "Heimatkundliche Blätter" erstellt. Wesentliche Informationen stammen aus "Meine Lebenserinnerungen" von Carl Reichstein sen..

Details dazu im Literaturverzeichnis.

Aus der Geschichte der Brennaborwerke I

Von der Korbmacherei zur Kinderwagenfabrik

Die Wurzeln der Brennaborwerke lassen sich bis in das Jahr 1832 zurückverfolgen. 

Der Korbmacher Eduard Reichstein (23.11.1810-16.4.1862) erlernte sein Handwerk von 1825 bis 1828 bei seinem Vater, der als Korbmachermeister in Potsdam tätig war. Nach der Lehrzeit arbeitete Eduard Reichstein bis 1830 als Korbmachergeselle. Vom 28.11.1830 bis 1.6.1832 leistete er seinen Militärdienst bei der 3. Pionierabteilung in Magdeburg. Danach übernahm er die Leitung des Geschäftes der Korbmacherwitwe Schulze in Brandenburg, welches sich in der Brüderstraße 372 (jetzt Nr. 3) befand. In dieser Zeit legte er die Prüfung als Korbmachermeister ab und führte das Geschäft ab dem 15.7.1835 als selbständiger Korbmachermeister weiter. 

 

Brandenburger Anzeiger 15.07.1835
Brandenburger Anzeiger 15.07.1835

Am 12.7.1835 heiratete Eduard Reichstein Marie Wilhelmine Wiggert (26.7.1807-8.12.1883), die Tochter des Brandenburger Tuchmachermeisters Friedrich Wiggert.

Gemeinsam hatten sie sechs Kinder:   Adolf 27.8.1839-12.91910                                                                                                                                                                                 Herrmann 27.10.1841-4.1.1913

                                                                         Franz 11.9.1843-13.1.1844

                                                                         Emma 9.1.1845-29.1.1929

                                                                         Carl 23.2.1847-17.1.1931

                                                                         Eduard 24.9.1850-4.5.1893 

1853 begann der Sohn Adolf eine Korbmacherlehre im väterlichen Geschäft, 1855 auch der Bruder Hermann, 1861 folgte Carl. Eduard Reichstein hingegen entschied sich 1864 für die Aufnahme einer Tuchmacherlehre.

Der Vater Eduard Reichstein beschäftigte anfangs zwei Gesellen, durch eine gute Auftragslage wurde eine Vergrößerung der Geschäftsräume und durch die wachsende Familie auch eine größere Wohnung notwendig.

So zog die Familie  wegen der Geschäftsvergrößerungen häufig um, 1838 in die Venedigstraße 622, 1844 zum Neustädtischer Markt 4,  1850 zum Molkenmarkt 25  und 1858 zum Neustädtischen Markt neben dem Militär-Casino.

Die Firma Eduard Reichstein fertigte neben den gewöhnlichen Wirtschaftsartikeln auch die Körbe für die Brandenburger Tuchfabriken, Spinnereien und Färbereien.

Kiepen für die Koksbrennerei der B.P.M.- Eisenbahn wurden von der Firma E. Reichstein als alleinigem Lieferanten bezogen. 

1859 wurde das Haus Steinstraße 4 erworben, die Werkstätten an den vorherigen Wohnorten wurden aber teilweise weiter genutzt.

Brandenburger Anzeiger 14.07.1838
Brandenburger Anzeiger 14.07.1838
Brandenburger Anzeiger 06.07.1844
Brandenburger Anzeiger 06.07.1844

Am 16.4.1862 stirbt Eduard Reichstein. Der älteste Sohn Adolf übernimmt die Leitung des Geschäftes und legt am 8.5.1866 die Meisterprüfung ab.

Carl ging vom Sommer 1867 für 26 Monate auf Wanderschaft. Er verbrachte dabei 17 Monate in Paris und besuchte die II. Weltausstellung, um sich für die Firma ein Bild von den neuesten Korbwarenprodukten zu machen. Das Korbmachergeschäft hatte sich in der Zwischenzeit wesentlich vergrößert. Es wurden 1869  fünf Gesellen und zwei Lehrlinge beschäftigt.

 

 Adolf  hatte 1868 bei einer Reise zum Kennenlernen der Produkte der Korbwarenindustrie in Süddeutschland auch die Kinderwagenproduktion in Zeitz besucht. In der Überzeugung bessere Produkte herstellen zu können, schlug er seinen Brüdern vor, Kinderwagen in größerem Umfang herzustellen und eine Kinderwagenfabrik zu gründen. Bei diesen Überlegungen spielten die Nähe Berlins mit großen Absatzmöglichkeiten und die günstige Bahnverbindung eine entscheidende Rolle.

Die Untergestelle wurden zunächst von einem benachbarten Schlossermeister angefertigt, die Körbe wurden selbst hergestellt, die Verdecke fertigte ein Sattlermeister und die Lackierung der Untergestelle wurde vom benachbarten Wagenlackierer Paul Seyffert übernommen. Im Frühjahr 1870 waren einige hundert Kinderwagen fertiggestellt, die dann auf dem Berliner Mai-Markt angeboten wurden. Die Firma erhielt hier Aufträge von größeren Berliner Korbwarengeschäften. Um diese bedienen zu können, war die Einrichtung einer eigenen Schmiede notwendig. Dazu wurde ein im Kinderwagenbau erfahrener Schmied bei einer Zeitzer Kinderwagenfirma abgeworben. Für hölzerne Untergestelle wurden die Teile zunächst im sächsischen Erzgebirge eingekauft. Später erfolgte die Einrichtung einer eigenen Stellmacherei. Anfang April 1871 wird  als Gründungzeitraum der Kinderwagenfabrik angegeben, in der 10 Gesellen beschäftigt wurden.  

 

Brandenburger Anzeiger 20.12.1872
Brandenburger Anzeiger 20.12.1872

Adolf leitete das Kontor, kümmerte sich um die Materialbeschaffung und die Expedition; Carl war für die Fabrikation und die Korbmacherei verantwortlich und Hermann übernahm die Weiterführung des Geschäftes in der Steinstraße 4.

Der jüngste Bruder Eduard war zu dieser Zeit auf Wanderschaft und wurde 1870 zum Kriegsdienst eingezogen. Bis 1875 verblieb er im Heeresdienst in Reims. In der Firma übernahm er danach die Leitung der Lackiererei und später gemeinsam mit Bruder Hermann die Reisetätigkeit zu den Kunden. Es war beabsichtigt, ihn später als Teilhaber aufzunehmen, wenn er sich mehr im Geschäft betätigt hatte. Dazu ist es offensichtlich nicht gekommen, Gründe dafür sind bisher nicht bekannt. Er verstarb bereits 1893 durch einen Unfall.

An der III. Weltausstellung 1873 in Wien beteiligte sich die Firma erfolgreich und erhielt die höchste Auszeichnung für industrielle Produkte, die Verdienstmedaille. 

 

Die Körbe für die ausgestellten Kinderwagen wurden

von Carl Reichstein persönlich angefertigt.

Als Neuerung

gegenüber anderen Herstellern wurde Peddigrohr verwendet, welches sich zu neuen Flechtmustern verarbeiten ließ, da es sehr biegsam ist und  demzufolge auch  sehr kleine Radien beim Verarbeiten ermöglicht.                  

Peddigrohr ist das Markrohr der lianenartigen Rotangpalme, die bis zu 200 m lang werden kann und sich an anderen Trägerpflanzen entlangwindet. Die Stängel werden geschält und aus der sehr zähen äußeren Schicht wird das Flechtmaterial für Stühle  und andere Produkte geschnitten. Das Markrohr hat sehr viele Kapillaren und wird daher durch das Wässern sehr biegsam. So können sehr enge Biegeradien bei der Verarbeitung erreicht werden und Flechtmuster realisiert werden, die bei der Vewendung von Weidenruten nicht möglich sind.


Das Geschäft ging gut und es konnte nicht so viel Ware geliefert werden, wie verlangt wurde. Um schnelle Abhilfe zu schaffen, wurden Grundstücke mit leerstehenden Fabrikationsräumen der Tuchindustrie, die sich in Brandenburg im Niedergang befand, in der Sankt-Annen-Straße 4 und in der Schützenstraße 34 gekauft. Um die Produktion wesentlich erhöhen zu können, musste eine größere Anzahl von Korbmachern angestellt werden, die aber in Brandenburg nicht verfügbar war. Carl  entwickelte den Plan, die Kinderwagenkörbe über Holzformen zu flechten, so dass auch ungelernte Arbeitskräfte zu guten Arbeitsergebnissen gelangen konnten. Weiterhin wurden die notwendigen Arbeitsschritte so aufgeteilt, dass in kurzer Zeit angelernte Arbeiter diese nun spezialisierten Arbeitsschritte ausführten. Diese Arbeitsteilung und Spezialisierung ermöglichte eine wesentliche Steigerung der Produktion bei gleichzeitiger Senkung der Lohnkosten, da die angelernten Arbeiter weniger Lohn erhielten als die gelernten Korbmacher. Das Anlernen der Arbeitskräfte übernahm Carl  als Leiter der Korbmacherei zu großen Teilen selbst. 1874 wurden bereits täglich 100 Kinderwagen durch 300 Arbeiter hergestellt.    

Das Bild zeigt die Verarbeitung von Peddigrohr auf Holzformen
Das Bild zeigt die Verarbeitung von Peddigrohr auf Holzformen

 

Bis Ende 1874 wurde die Firma unter dem Namen von Eduard Reichstein geführt. 

Anfang 1875 wurde die Firmenbezeichnung in „Gebrüder Reichstein“ geändert und ins Firmenregister eingetragen.

Inhaber waren die Brüder Adolf,  Hermann und Carl Reichstein.

 

1877 wurde ein Reisesystem zum regelmäßigen Besuch der Kundschaft eingeführt. Dadurch wuchsen die Ansprüche an die Leistungsfähigkeit der Firma ständig weiter und es mussten so bedeutende Vergrößerungen angedacht werden. Aufstockungen der vorhandenen Fabrikationsräume sowie Grundstückszukäufe und die Errichtung neuer Fabrikgebäude führten zu einer enormen Ausdehnung des Werkes und zum stetigen Anstieg der Anzahl von Arbeitskräften. 

1890

1894

1897

1898


Die Eisengießerei, die Dreherei, die Schmiede und die Dampfmaschine zum Antrieb der Maschinen wurden Mitte der 1880er Jahre eingerichtet bzw. ausgebaut. Diese Anlagen mussten mit der weiteren Vergrößerung des Werkes ständig erweitert werden.

Veränderungen in der Technologie der Herstellung der Kinderwagenräder und der Kinderwagenverdecke bedingten die Einrichtung von Holzbearbeitungswerkstätten mit den dazu notwendigen großen Lager- und Trockenschuppen.

Bis ca. 1885 wurden Eisenräder mit massiven ¼ Zoll Speichen und Holznaben oder komplett aus Holz gefertigte Räder, die mit Eisenbändern benagelt waren, hergestellt. Dann erfolgte eine komplette  konstruktive Veränderung des Räderbaues für Kinderwagen. Der Radkranz wurde aus Buchenholz gebogen. Ein Eisenreif wurde darauf heiß aufgezogen oder auf den Radkranz wurde ein Vollgummiring aufgekittet. Die Radnaben waren jetzt aus Eisen gegossen.  Räder aus gebogenem Buchenholz hatten auch schon etwas dünnere Eisenspeichen und sahen dadurch gefälliger aus.                            

Eisenräder mit Holznaben und

1/4 Zoll Eisenspeichen

Holzräder mit Holznaben und Holzspeichen, Eisenreif

Holzräder aus gebogenem Buchenholz, Eisennaben

mit Messigkapseln,

dünne Eisenspeichen, Eisenreif

Holzräder aus gebogenem Buchenholz, Eisennaben

mit Messigkapseln,

dünne Eisenspeichen, Vollgummiringe


Mit Hilfe einer von Adolf Reichstein erfundenen Vorrichtung, für die er ein Patent erhielt, wurde es möglich die Kinderwagenverdecke abnehmbar herzustellen. Die Verdeckgestelle mussten nicht mehr aufwändig aus Rohr angefertigt werden, sondern wurden aus Buchenholz hergestellt und waren ein komplett eigenständiges Teil, welches nicht mehr fest mit dem Wagenkörper verbunden war. Durch diese Technologie wurde exakte Passgenauigkeit erreicht und die Arbeiten konnten billig durch angelernte Arbeitskräfte ausgeführt werden.         


Im Jahr 1881 wurden in Brandenburg die ersten englischen Hochräder von einigen jungen Sportsleuten angeschafft, so auch von Eduard Reichstein, dem jüngsten der vier Brüder. Dadurch kam Carl Reichstein auf die Idee, diese bei den Hochrädern verwendeten filigranen Drahtspeichenräder auch für Kinderwagen zu verarbeiten. Wie er später erfuhr, kamen diese Räder und weitere Verbesserungen in England bereits bei der Kinderwagenproduktion zum Einsatz. Im Sommer 1883 unternahm Carl Reichstein deshalb eine Reise nach England, um sich mit der dort etablierten Kinderwagentechnologie vertraut zu machen. Mit Musterstücken von Byciclerädern und anderen Neuerungen, wie Messingabdeckungen für die Radnaben, Porzellangriffen und Messingsturmstangen für die Verdecke, kehrte er nach Brandenburg zurück. Nach eingehender Beratung mit den Brüdern wurden die notwendigen Maschinen für die Fertigung der Drahtspeichenräder  und zur Herstellung von Messingkapseln für die Radnabenabdeckung bestellt. Die Rohteile der Messingkapseln wurden in der eigenen Gießerei produziert.  Bereits Ende 1883 konnte die Fabrikation der neuen Bycicleräder aufgenommen werden. Mit großer Reklame durch die Kinderwagenfabrik Gebrüder Reichstein als erster deutscher Fabrik konnten diese Räder am Markt eingeführt werden. Diese Neuerungen führten zu einem großen Anstieg der Bestellungen und die Anschaffungskosten für Maschinen und Vorrichtungen machten sich schon im ersten Jahr bezahlt.

Unter der Bezeichnung „fein“ wurden Kinderwagen mit vernickelten Radkapseln, Sturmstangen, Federn und Schiebern geliefert, unter der Bezeichnung „extrafein“ kamen noch Porzellangriffe und auf den Radreif aufgekittete Vollgummiringe hinzu.                 

 


Im Jahr 1895 wurden 75.000 Kinderwagen sowie ebensoviele Puppen- und Holzwagen durch 300 Arbeiter hergestellt.

Die Firma Gebrüder Reichstein-Kinderwagenfabrik erhielt im Laufe ihres Bestehens zahlreiche Patente für Verbesserungen und neue Konstruktionen an Kinderwagen und war bis in die 1930er Jahre Europas größte Kinderwagenfabrik.